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Nevers - Ainay-le-Cháteau

Es ist Februar und draußen stürmt gerade Orkan Sabine den letzten Schnee weg. Schnee, der ungenügend da ist. Perfektes Wetter um Gedanken in die Tastatur zu tippen. Richtig heißt es wohl, Sturm mit orkanartigen Böen. Jedenfalls stürmt es gewaltig und pfeift lautstark durch die Lüftungsrohre. Gedanken rasen orkanartig daher, dass ich mit notieren kaum hinterherkomme. Orkanartig wirbeln sie umher. Auf alle Fälle verwerte ich die Stichpunkte, die ich vor einem halben Jahr aufs Papier kritzelte. So werde ich das schlechte Wetter schreibend rumkriegen. Das Gute an schlechtem Wetter ist doch offenkundig, es wird danach wieder besser. Meistens!

Nevers im Juli 2019. Der Tag begann gut, nach Frühstück, nach Eichhörnchen, nach der Fahrt nach Nevers, habe ich als erstes die Heilige Bernadette besucht und vor der Madonna eine Kerze gespendet. Worauf es wirklich losging, endlich nach drei Jahren Pause, mit meiner Pilgerfahrt 2019. An der Loire atme ich noch mal tief durch. Mit Gewissheit bin ich nicht für die geraden Wege gemacht. Infolgedessen verstimmen mich die ersten vier Kilometer, die schnurgerade neben der viel befahrenen Straße verlaufen. Verlaufen? Verradeln! Verdaddeln! Passieren! Autsch! Monsieur Salzmann, ich muss dir mal was sagen. Du überlebst das. Gleich biegst du rechts ab und du bist am Kanal, du bist in der Stille, du bist im Sommer. Ist dass nicht fantastisch? Habe ich nicht erst nach dem Frühstück eine interessante Holländerin umärmelt, die Workshops für intensives Leben veranstaltet? Abschiedsumärmelung, nicht mehr. Da bin ich pauschal noch gar nicht richtig unterwegs und du lernst schon die spannenden Leute kennen. Und wirklich, ich biege rechts ab und bin …  zum Glück im Schatten. Es wird ein glühender Tag. Workshop für intensives Leben? Warum nur habe ich nicht nach einer Visitenkarte verlangt. Intensives Leben? Was ist das? Gestern hat mich die Frau nach dem dritten Eierlikör geknutscht und jetzt weiß ich nicht mal ihren Namen. Ich konnte ihre Haut riechen und am Morgen sah ich sie spärlich bekleidet, noch vor dem Eichhörnchen. Workshop klingt positiv, modern, aktiv, bejahend, bestimmt und damit scheint mein Schicksal besiegelt. Dummkopf! Meine Seele wird sie nie wiedersehen und nie erfahren, was intensives Leben ist. Intensives Leben, wäre das überhaupt etwas für mich? Während ich im schattigen Ufer vom idyllischen Canal du Nivernais rum radle, kommen die Gedanken. 

Gedanken können so unfassbar schnell sein. In Sekundenschnelle belagern sie mich. Radeln und Denken, ist quasi Multitasking. Die Erforschung der Langsamkeit fällt mir ein. In meiner zweijährigen Krankschreibung bin ich, unvernünftiger Weise, zwischen zwei Operationen, mal vom Rennsteig an die Ostsee geradelt. Das Erlebte kann mir keiner mehr nehmen. Gesehen habe ich viel. Zum Beispiel zwei Opern. Ein Ding aber, ein Objekt, eine Geschichte, an dasjenige ich regelmäßig denke, öfters denken muss. Ist Denken erlaubt? Unterwegs, in Halberstadt, gewahrte ich die Relativität der Zeit, entdeckte ich die Burchardikirche, in der unbeirrt ein sechshundertneununddreißig Jahre langes Musikstück von John Cage aufgeführt wird. Die Orgel spielt das Werk pausenlos und  unbeirrt vor sich her, ich sollte den 05.09.2020 im Hinterkopf haben, wenn der nächste Klangwechsel erfolgt. Mein Ohr ist schon auf den letzten Ton neugierig, der im Jahr 2640 erschallen wird. Das braucht Geduld, die ich nicht habe. 

Die Orgel spielt das Werk pausenlos und unbeirrt vor sich her, ich sollte den 05.09.2020 im Hinterkopf haben, wenn der nächste Klangwechsel erfolgt. Der letzte Ton wird 2640 ertönen.  

Mit gewisser Geduld verlasse ich das schattige Kanalufer, auf dem einige bunte Hausboote relativ gelassen rumschippern und sich schleusen lassen. Alsdann geht es übers freie Feld auf dem Mähdrescher dreschen, verfolgt von Dutzenden Störchen. Früher waren es die immer die Raben, denke ich. Kein Schatten! Millionen Sonnenblumen und einige weiße Kühe lassen sich sehen. Kleine Dörfchen präsentieren maroden Charme oder sind aus der Zeit gefallen. Magny Cours lasse ich links liegen. Magny Cours ist ein Mekka für eine globale Randsportart. Ich kenne mich da nicht so aus, diese Sportart wird wohl weltweit von ca. zwanzig Athleten betrieben und nennt sich Formel 1. Soweit ich es kapiere, fahren da Sportler mit grotesk hohen Gehältern in lauten unpraktischen Autos im Kreis herum. Das ist bestimmt zeitgemäß und verhält sich ähnlich wie mit der Abseitsregel beim Fußball. Ich begreife beides nicht! Mein Weg geht weiter nach Saint-Parize-le-Chatel in die Kirche, in die Krypta. Das Gemäuer soll aus dem Jahr 555 stammen. Zeitlos friedlich lammfromm. A-Vendra-Schilder an vielen Gebäuden drumherum. Was verbirgt sich da wohl hinter jedem Schild? Landflucht? Schicksale? Notwendigkeit? Ein besseres Leben? An der Allier, ist wenig später quirliges Leben, Kinder hüpfen ausgelassen im Flusslauf herum. Ich auch. Ein bisschen weiter, ein bisschen unbemerkbarer, ein bisschen nackiger! Herrlich! Das kühle Wasser spült Staub von Leib und Seele.

An der Brücke verlässt mich Burgund. Mein Weg führt nun in die Auvergne. Hütet euch vor Wegen auf denen geträumt wird. Träume, fallen einem nicht ein, Träume fallen einem zu. Die Auvergne wird ein Traum. Ein Träumchen fällt mir zu! Überall ist da Landschaft, die mir gefällt. Sensationell erfolgt die nächste Tasse Kaffee. Workshop für intensives Leben? Unmittelbar bin ich drin, im Workshop! Street Art City nennt sich das und ich bin in Allier Lurcy-Lévi. Künstler von allen Kontinenten, zeigen ihr Können. Antarktika? Upps! Das werde ich anders ausdrücken. Könner von fast allen Kontinenten zeigen ihre Kunst. Im Hotel 128 nehme ich mir die nötige Zeit. Jedes Zimmer ist eine einzigartige Schöpfung, erzählt Geschichte und Geschichten, umsorgt seine Geheimnisse. Atmosphäre die wirkt, mit außergewöhnlicher Energie. Aller Wahrscheinlichkeit nach, gerate ich gerade ins Schwärmen. Tolles Konzept! Die richtigen Köpfe am richtigen Ort. Unsere Armeeheimruine fällt mir ein und ich könnte mir ausmalen, wie der Frauenwälder Bürgerschaft das Gemüt erschaudert, wenn solche Extravaganzen in unseren Ort plätschern. Klingt das so? Die Tourismusagentur von Frauenwald möchte betonen, dass ein Besuch, in Frauenwald ohne einen Bummel durch die 356 buntgemalten Räume im ehemaligen Reservat der NVA, nicht vollständig ist. Dieses fantasiereiche Highlight wurde von Künstlern aus allen Kontinenten (außer Antarktika) erschaffen und ist einer der beliebtesten und buntesten Punkte im Freistaat Thüringen. Den Text kann sich die Tourismusagentur sparen. Die gefühlten drei Millionen Tonnen Stahlbeton stehen zu einer Bemalung nicht mehr zur Verfügung. Die 356 Räume wurden mit Steuergeldern plangemacht! Ist jetzt eine Höhe auf der kein Schnee liegt. Draußen stürmt nicht nur Sturm Sabine über die Thüringer Höhen, draußen versagt gerade stürmische Thüringer Politik. Draußen bin ich wohl fehl am Platz. Visionen sind fehl am Platz! Spezifisch Deutsch! Wie sagte schon ein deutscher Kanzler? Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen! Was sollte ich dem erzählen? Das die Bewohner Antarktikas die Südpolen sind! Hilf mir Gott! 

Etwas Gutes hat die Sache aber doch. Seit meiner Rückkehr aus Frankreich, male ich wieder und trinke Bier dazu. Alles gut! Wenn meine Hirngespinste, den Umweg über Polen (Südpolen) überstehen und wieder in der Auvergne landen! Ja, dann ist wieder Sommer in Frankreich. Wenn meine Imaginationen in einer buntgemalten Wellblechhütte landen, ist es auch erlaubt. Ich esse den erstaunlichsten Burger meines Lebens. Die Konzeption aus Kneipe und Künstlerwerkstatt gefällt mir. Hier würde ich gerne kochen und … malen. Umgedreht wäre noch besser. Träumen müsste wieder erlaubt werden. 35°C enthüllt ein Thermometer. Ich glaube, ich habe mir das Gesicht verbrannt. Oder habe ich Sonnenstich? Ich radle einfach weiter, noch tragisch eingespannt in nutzlosen Gedanken.

Rundherum schwirrt die Landschaft in traumhafter Kulisse umher. Da brummt der Sommer! Kurz vor Ainay-le-Cháteau gibt mir mein Jakobsweg weitere Denksportaufgaben auf. Ich entdecke einen kleinen idyllischen See. Es ist Hochsommer, eine Stadt ist zum Greifen nah, es gibt einen See mit entzückendstem Wasser und kein Erdenbewohner ist zu sehen. Was stimmt da nicht? Vielleicht stimmt da was nicht? Ist das Wasser verpestet? Ist das Wasser vergiftet. Warten hier die schottischen Ungeheuer auf leichtsinnige Badegäste? Das sind Fragen, die ich entschieden zur Seite schiebe. Es ist doch ganz einfach! An einem maroden Holzsteg lasse ich mich ins Wasser gleiten. Fabelhaft ist es, Märchenhaft ist es und überlebt habe ich es auch. Huch bin ich mutig!

Im Outdoor ist die Refuge Pelerin Muncipal Voie de La Vézeley in der Rue de Récollets, Hausnummer 20 angegeben. Ich finde sie in der Hausnummer 32. Egal! Betreut wird die Herberge von einem Rentnerehepaar aus Paris. Da ich der erste Pilger der Woche bin, legen sie sich voll ins Zeug. Ainay-le-Cháteau ist ein kleines sympathisches Städtchen mit Jeanne d‘Arc in der Kirche und Carrefour für die Schokomilch. Abends gibt es einen herben Saint Laurent zum Fünf-Gänge-Menü. Grüner Gartensalat mit Erdbeerdressing, Feurig rote Bohnensuppe, Gebratenes Hähnchen mit Reis, Tarte aux pommes und ganz viel verschimmelter Käse. Lecker! Danke noch mal.

Es gibt Tage, da dauert das Vergessen etwas länger. 


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