Das erste das mir an dem Tag weh tut, sind die neunundzwanzig Euro neunundneunzig.
Von alten Leuten hörte ich das schon, von mir kenne ich das nun endlich auch. Das ist Multitasking in verschärfter Form, die Brille auf dem Kopf tragen und sie gleichzeitig suchen, mit Hunger zum Kühlschrank rennen, wegen der gesunden Ernährung, und mit dem Bierchen zurückkehren. Privat kann man solche Sachen gerne tun, aber im öffentlichen Raum, gar im Job, gehen solche Sachen gar nicht. Neulich ist mir die Oberpeinlichkeit passiert, im Kaufrausch legte ich das Förderband an der Kasse bis zum Anschlag voll, dumm war nur das ich das Portemonnaie mit samt dem Rucksack im Auto vergessen hatte. Hinter mir eine Schlange, die für diese Derartigkeiten absolut kein Einfühlungsvermögen hatte. Im Job lässt das Kurzzeitgedächtnis immer mehr zu wünschen übrig. Stehe im Kühlhaus, völlig ahnungslos warum. Stehe im Lager vorm Regal, wegen der Oliven und komme mit Rosinen zurück. Es kann nur eine Frage der Zeit werde. Wann fange ich an, das Hüftsteak mit Zucker und Zimt zu würzen, wann garniere ich den Milchreis mit tasmanischen Bergpfeffer? Wann werde ich das geeiste Gurkensüppchen flambieren und einen Eimer heißes Wasser einfrieren? Eine Chefin würde entgeistert danebenstehen und vergeblich versuchen mich zu beruhigen. Ich bin ruhig! Werde ich schreien. Heißes Wasser kann man immer mal brauchen und so scharfen Milchreis kann nicht jeder. Ich sollte kürzertreten, in Rente gehen oder bestenfalls nur noch die Teller spülen. Ich sollte das Bataillon verlassen, das Zepter an die Jugend abgeben, den Hausmeister machen! Ne lieber nicht! In dem Wort versteckt sich das Wort Meister. Doch wo ist der hochmotivierte Nachwuchs, der mich erlöst? Warum schreibe ich solche Klagezeilen überhaupt? Das könnte mit dem fehlenden Lektor legitimiert werden, es ist Keiner da, der mich lektorisch in die Schranken weist. Es könnte an meiner Fabulierlaune liegen, die von eins ins andere kommt, es könnten auch die Gedanken sein, die von eins ins andere kommen. Es liegt aber buchstäblich, im wahrsten Sinne des Wortes, an meiner Rotweinunverträglichkeit. Gestern, nach dem die Franzosen aufhörten zu Tanzen und der Sturm auf die Bastille ein glückliches Ende nahm, wollte ich mein Handy laden. Das gute Ladekabel steckte aber noch in Bénévent-l‘-Abbaye in der Steckdose, es steckte also unerreichbar weit weg. Rotwein kombiniert mit Gedächtnisschwund sind zwei teure Sachen.
Ich muss mir diese blöde Ungeduld abgewöhnen, denke ich als vor dem Telefonladen stehe. Es ist so einfach und alles wird gut. Buch Hiob, Seite 22, Vers 28: Was du dir vornimmst, lässt er dir gelingen, und das Licht wird auf deinen Wegen scheinen. Es ist schon tierisch heiß und ich finde es unfassbar, dass Telefonläden erst um Zehne öffnen und der Citycarrefour keine Ladekabel führt. Ich finde es auch unfassbar, dass ich jetzt schon die Bibel zitiere. Das muss am Wetter liegen. Es wird noch heißer. Neunundzwanzig Grad am Morgen. Neunundzwanzig Euro und neunundneunzig Cent später geht es endlich los und ich sollte über fünfzehn Kilometer brauchen, bis ich den Jakobsweg finde. Wo ist der nur? Ich weiß nicht wohin und wo lang, es ist rund um die Kathedrale nicht die kleinste Muschel aufzuspüren. Also muss das Teasy ran und das schickt mich einen ellenlangen Berg hinauf, auf einer Stoßstangeanstoßstangestraße, mit Stoßstange an Stoßstange. Es muss da ein Missverständnis im Weg vorliegen und ich versuche mein Glück in allen Nebenstraßen die links oder rechts abgehen. Kurz bevor mir die Puste aus- und die Nerven durchgehen, klapptes. Ich finde, besser gesagt mein Navigationsgerät, eine eindrucksvolle Alternative. Der Weg hat es in sich, steil und knackig, rauf und runter, mit Mühlen und Bächen, mit Wald und Flur, mit tollen Aussichten auf Limoges. Eine Schlangentierleiche liegt da zur Krönung auch noch rum. Es ist ganz schön groß das kleine Reptilchen. Auf der Brücke in Aixe-sur-Vienne finde ich schließlich was ich suche. Endlich. Ab hier verfehle ich keine Jakobsmuschel mehr. Naja, beinahe. Wie der Jakobsweg von Limoges hierhergekommen ist? Keine Ahnung. Und heiß ist es. Die Temperaturen steigen und steigen, der Wetterdienst hat ganz bestimmt eine flächendeckende Hitzewarnung für ganz Frankreich herausgegeben. Bestimmt warnen schon exaltierte Radiomoderatoren ganz energisch vorm Radfahren im Freien. Sie warnen gewiss und eindringlich vor der Überhitzung des Zerebrums. Wenn ich zu dem Zeitpunkt gewusst hätte, dass es nur ein sensibler Auftakt für eine regelrechte tropische Hitzewelle ist, hätte ich die fünfunddreißig Grad milde belächelt. Gerade aber, als mir die fünfunddreißig Grad zu heiß vorkamen, erblicke ich den Badesee von Flavignac.
Mich wundert es nur, dass ich das kühle Paradies für mich alleine habe. Es ist alles vorhanden, Duschen, Umkleiden, mediterrane Hocktoilette, Strand und klares Wasser. Ein großes Schild erklärt die Baderegeln oder die Badeverbote und ich war mal froh, dass ich nicht französisch lesen kann. Flavignac ist voller Blumen und hat frisierte Bäume.
Mit gedrosselter Wattzahl geht es die nächsten Bergrücken an und ich komme ins Land der Trüffel, ins Périgord. Unter Umständen sind die vielen Limousinrinder hier illegal über die Grenze gekommen. Sie sind alle lieb und friedlich und im Schatten. Nun floriere ich flugs in das Märchen von dem schönen schlafenden Dornröschen, denn so wird die liebreizende Prinzessin genannt, die zweifellos in dem zugewachsenen Schlösschen schläft. Hier schlafen sogar die Fliegen an der Wand. Schade das ich keine Machete dabei habe, sonst würde ich in aller Pracht Hochzeit mit dem Dornröschen feiern und wir lebten dann hier vergnügt bis ans Ende der Zeit. Zum Glück gibt es keine Märchen. Burgen, Paläste, Kastelle, Herrenhäuser gibt es reichlich hier und in Chálus gibt es sogar eine ganz berühmte Burg die ich begucken muss. Schließlich wurde hier der königliche Freund von Robin Hood von einem vergifteten Pfeil getroffen. Armer Richard Löwenherz. Ich werde bei der Erstürmung der Burg nicht beschossen, dagegen trinke ich bei einem situierten Schotten Kaffee und mindestens einen Liter Cola. Ich trinke nie Cola! Normalerweise. Mir ist gerade so heiß.
Die weiteren Wege sind mal wieder grün, saftig und euphorisch stark bewachsen. Ob ich bei Ebay eines Tages mal eine gute Machete bekomme? Durch Wald, über Wiesen, Weiden, Berge, Hügel und Täler komme ich nach La Coquille und fühle mich wie ein kleiner Sieger. Das Siegerfoto gibt es gleich vor der Kirche mit dem Jakobus, das Siegerbierchen gleich hinter der Kirche unter den Platanen. Schön sitz es sich hier, dass denken auch ein paar Teenies. Sie lachen, schwatzen, tun was Teenies so tun. Ich muss dreimal hingucken, das sitzen drei Mädchen und stricken. Was für ..., haben die nur ihre Handys vergessen, ist das zweifellos eine geheime Sekte, sind dass Hare-Krishna-Teenies die gleich tonnenweise Mantra versprühen? Kürzlich erzählte mir jemand, dass immer mehr Halbwüchsige ihre Handys weglegen, lieber stricken oder häkeln, das wäre ein neuer Trend. Dachrinnen, Verkehrsschilder und Polizeiautos verschwinden unter der Häkelei, werden zugestrickt und frieren nicht mehr im Winter. In meinen Heimatdorf braucht die kommende Zeit immer ein bisschen länger, bis sie kommt. Bei manchem Einwohner dort, da ist es noch ein Drama, eine tragische Tragödie, wenn man mal das Handyladekabel in irgendeiner Steckdose vergisst und für neunundzwanzig Euro neunundneunzig ein neues kaufen muss. Wirklich schlimme Leute gibts!
Im schönen Refuge Pelerine Muncipal Voie de Vézeley, treffe ich eine muntere Herbergsmutter, die herrlich kochen kann und einen französischen Pilger, der sich Ben The Writer nennt. Ben erzählt von seiner Zeit, als er für Ärzte ohne Grenzen an der Grenze zwischen Kongo und Ruanda, Gutes tat. Seit seiner Zeit in Afrika kann er überall schlafen und es würde überhaupt nicht stören, wenn ich schnarchen würde. Es wird ein guter Abend.
Ich schnarche nicht oder versuche wenigstens so leise wie möglich zu schnarchen. Ach was weiß ich!
... und über Kommentare freue ich mich.
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Sven (Freitag, 06 März 2020 09:58)
Super Ulli und die wunderbaren Bilder! Daumen hoch! � Ich freue mich darauf
https://www.ulliunterwegs.de/ (Freitag, 06 März 2020 10:18)
Dankeschön.
Sarah (Sonntag, 08 März 2020 12:10)
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