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Nach Nürnberg

Das ist der ungekürzte Director’s Cut  von meiner spontanen Pilgerreise nach Nürnberg im Juni 2017.

Mit dem Schreiben ist ja so, dass man erst in die Gänge kommen und vor allem das erste geeignete Wort finden muss. Gleichsam verhält es sich mit dem Pilgern auf dem Jakobsweg, man soll endlich den ersten Schritt tun. Aber wenn erst endlich Stolpersteine bezwungen sind, läuft, radelt, schreibt es sich beinahe von selbst. Nun ist es fast Herbst und die Abende an der frischen Luft werden kürzer. Genau die richtige Zeit meine alten Stichpunkte in lesbare Sätzen zu formen. 

Da gab es mitten im Juni diesen stimmungsvollen Sonnenaufgang, an dem mich ein gestundeter Gedanke unerwartet verblüffte. Eine Handvoll unter euch wird wissen, dass mich ein Unfall und das dabei festgestellte Krebsgeschwür seit gewisser Zeit aus den organisierten Erdentagen wirft und seit ungewisser Zeit mich der herzensgute Virus Jakobsweg auch noch unheilbar befallen hat. Wie kann ich nur so viele Verwundungen und meine verwendbare Lebendigkeit unter einen Hut bringen? Nun also, es ist Juni, die Sonne kündigt in kräftigen Rottönen einen warmen Sommertag an und ich habe diese verrückte Idee. Ich atme tief durch, zweifellos restriktiv, spürte ein kleines Hämmern an der Schädeldecke und höre meine eigenen Worte in den Ohren: „Puh, das wird geil!“

Die Situation im frühen Sommer war zudem so, dass ich mich nach der derben Chemotherapie in Bad Salzungen zur Reha erholen konnte und erst wenige Tage zu Hause war. Belanglose Tage bis zum nächsten Gastspiel im Klinikum Bad Berka rollten einfach dahin. Es war schon deutlich, dass mein Bein in absehbarer Zeit nochmals operiert werden müsste und die Fortsetzung meiner Pilgerreise in Frankreich dieses Jahr nicht gehen wird. Warum aber die Tage bis zum nächsten Krankenbett bedeutungslos verstreichen lassen? Warum dieses Jahr nicht pilgern können? Und? Eine liebe Freundin in Nürnberg wollte ich immer schon mal besuchen. Innerlich jubelnd gehe ich in den Tag!

Sicher werde ich nicht so leichtfüßig unterwegs sein wie in den letzten Jahren. Einwand! Egal wie langsam ich unterwegs bin, so bin ich doch allemal schneller als alle die zu Hause bleiben. Und alles, alles ist ja so einfach! Im Internet werden grobe Informationen eingefangen und ein paar Telefongespräche werden geführt. Zum Beispiel erfahre ich, dass ich gerne in der Wanderhütte auf dem Bleßberg nächtigen dürfe und dass ich den Berg für mich ganz alleine habe. Nebenbei bemerkt, könnte ich den Bleßberg von meinem Stubenfenster sehen, wenn ich ein paar nachbarliche Häuser sprengen würde. Die Hüttenwirtin bietet sich sogar an auf dem Turm zu steigen und mir schon mal zuzuwinken. So narzisstisch bin aber ich nun doch nicht und laufe bei Gelegenheit zur Promenade und kann das erste Etappenziel mit dem hohen Fernsehturm am Horizont ausmachen. Auch in Nürnberg würde ich mit offenen Armen empfangen werden. Juhu! Wie kann da die Vorfreude noch gesteigert werden! Zum Frühstück lege ich eine Platte auf und schaue auf die sommerliche Frauenwälder Nordstraße. Voll schön ertönt die Ballade aus dem Lautsprecher.  Kennt ihr diese Zeilen? „Niemand hat mich zuvor gefragt, und ich wurde geboren, wie der Rest dieser Menschheit auch! Aber heut weiß ich genau, was ich will.“ Ihr kennt das Lied nicht? Na dann dürft ihr ruhig mal googeln. Boah! In drei Tagen, am Sonntag geht es los! Entschuldigt bitte die vielen Wörter, vermutlich bin ich gerade in Erzähllaune geraten.

Sonntagmorgen, alles ist verpackt. Knacker und Butterstullen sind vertuppert. Meinem Herzschlag genügt schon ein erster Blick aus dem Fenster um die Schlagfolge zu aufzustocken. Strahlend blauer Himmel! Nach dem schweren Gewitter am Donnerstagabend und zwei Tagen durchwachsenem Juni, scheint der Sonntag seinem Namen gerecht zu werden. So soll es sein!

Viele schöne Dinge sind völlig kostenlos, spüre ich schon in den ersten Minuten. Waldiges und lichtdurchflutetes Vogelgezwitscher. Die Route nach Masserberg war in den fleißigen Jahren mein Radweg zur Arbeit. In den sportlichsten Zeiten benötigte ich abgerundete fünfzig Minuten für diese zwanzig Kilometer. Augenblicklich habe ich Hast und Eile ausnahmslos nach unten zu den Regensachen in den Rucksack gepackt. Nichts davon werde ich brauchen. Nun rolle ich auf dem ausgedienten Bahndamm der Laura dem schlummernden Allzunah und anknüpfend dem Rennsteig entgegen. Vor Jahren habe ich hier, mit einem Edding, dem Wald ein Schmunzeln auferlegt. Wenn ich behaupte, dass ich damit mein eigenes Schmunzeln heraufbeschwöre, dann ist das schon hundertfach gelungen. Ein rotbraunes Eichhörnchen lässt sich sehen und verschwindet im pfeilschnellen Zickzack unter der nächsten Fichte.

Am Großen Dreiherrenstein stupsten sich seinerzeit ein Fürstentum, ein Herzogtum und eine Grafschaft an und ist seit jeher der Mittelpunkt des Rennsteigs. „Trag nach alter Sitte einen Stein zur Saale, bitte!" Hohoho, so steht es am Tor zum Rennsteig in Hörschel geschrieben und da kommt mir ein unmittelbares Defizit in den Sinn. Dreimal habe ich den bekanntesten deutschen Wanderweg bewältigt. Zweimal warf ich nach 169 Kilometer einen Stein aus der Werra in die Saale, nur einmal geschah es umgedreht. Da fehlt doch ein Stein!

In der Folge möchte ich euch aber die unerhebliche Schilderung von vielen Bäumen und vielen archaischen Grenzsteinen ersparen und lande direkt am Frühstücksbüfett meiner ehemaligen Arbeitsstelle in Masserberg. Guten Appetit Ulli! Im Hotel Auerhahn ist das eigentliche Frühstück gerade vorbei und nun dürfen sich das Team, meine ehemaligen Arbeitskollegen, laben. Ich natürlich auch. Danke liebe Chefin! Es gibt unter vielen Leckereien auch Nürnberger Würstchen, die ich jetzt noch ignoriere. In Nürnberg aber ..., soweit bin ich aber noch lange nicht.

Satt und mit vielen Wünschen beschenkt, geht es weiter zum Tohuwabohu vorm Rennsteighotel. Gefühlte 150 Motorradfahrer lassen alles hören was der Auspuff hergibt. Laubbäume, Nadelbäume, Grenzsteine, Rennsteigwarte, Werraquelle, Heidehütte und vieles mehr flankieren den Weg zur Eisfelder Ausspanne. Danach wandelt sich jählings die Landschaft. Radlader und Bagger haben tiefe Spuren in ihr hinterlassen und Platz für die riesige Stromleitung geschaffen, damit der Süden den nördlichen Strom bekommt. Den ungemein hohen Eingriff in die Natur möchte ich gar nicht weiter bewerten, da Bussarde in der Luft kreisen und hier sicher mehr Beute finden als im umliegenden Wald, der ja vorwiegend Monokultur ist. Schön aussehen tut es trotzdem nicht. Später bin ich endlich am berühmten Dreistromstein, der Wasserscheide zwischen Weser, Elbe und Rhein. Hier freue mich über die erste gelbe Muschel auf blauem Grund. Juhu, ab hier bin ich auf dem Jakobsweg. Ruhezeit für Knacker und Butterbrot. Dass die Werra eine zweite Quelle hat erfahre ich später in Sigmundsburg und entdecke dabei eine ziemlich überladene kitschige Mariengrotte. Ein künstliches Kunstwerk.

Als heißer Tag wird ein Tag etikettiert, wenn die Tageshöchsttemperatur wenigstens 30° Celsius beträgt und spätestens jetzt fange ich an zu schwitzen. Ich muss schon sagen, der alte Grenzweg zwischen Henneberger und Schaumburger Land hat es in sich. Zwischen seinen gut erhaltenen Grenzsteinen von 1565 schlängelt er sich überdies fahrtechnisch verfeinert steil hinauf zum Bleßberg. Durchgeschwitzt und sieghaft erreiche ich zu bester Kaffeezeit mein heutiges Tagesziel. Sonntagnachmittag, großartiges Wetter und eine Ausflugsgaststätte. So etwas kenne ich aus meiner Stutenhauszeit und ist letztlich Irrsinn für die Gastronomen und der Tag wo die Kasse klingelt. Mit Mühe erwerbe ich einen Pott Kaffee und eine Bockwurst. Aha! Bin ich nicht auch unterwegs um verschiedene Gewohnheiten los zu werden? Hatte mir doch eine Bockwurstaskese verordnet. Naja morgen ist auch noch ein Tag für Vorsätze. Die Sendemastspitze ist mit 1062 Metern der höchste Punkt im Thüringer Freistaat. Angrenzend gibt es aber auch noch einen Aussichtsturm den ich hurtig bezwinge, nur um festzustellen, dass der zwischenliegende Fernsehturm die Sicht auf Frauenwald unmöglich macht. Fast hätte ich meine Nachbarhäuser umsonst gesprengt. Die übrigbleibende Aussicht ist aber grandios.

Im Gastraum steht ein ausgestopfter Rasselbock und der Hauswirt will mir einreden, das wäre ein Wolpertinger. Er kennt möglicherweise die Besonderheiten zwischen heimischen und bayrischen Fabelwesen nicht. Mit Rasselböcken, Hanghühnern, Frawällerhasen und Einhörnern usw. kenne ich mich bestens aus, bin ja schließlich Koch. Nachdem sich der Sonntagnachmittagsbesucherstrom etwas gelegt hat, wird es still und leise auf dem Berg. Das Risiko, dass die abendliche Stimmung meine Gedanken aber ungelesen über den Thüringer Wald verstreuen, unterbinde ich mit ein paar Zeilen ins Notizbuch. Überdies gibt es Bierchen, auf einer Bank mit herrlicher Sicht. Am liebsten würde ich das Strickzeug rausholen und stricken, obwohl ich gar nicht stricken kann. Dafür suche ich die letzten Körnchen Weisheit für den Abend in einem guten Buch, höre dem Wind zu und beobachte die Wolken die der Abend bringt. Wusstet ihr eigentlich, dass die emsige Leserin eine Ratte und der fleißige Leser ein Wurm ist? Synonym für Leser ist die Leseratte oder der Bücherwurm. Komisch, da könnt ihr das Synonymwörterbuch im Word ruhig mal befragen. Spektakulär ist der Sonnenuntergang, den ich vom Aussichtsturm bestaune. Gute Nacht liebe Leser, morgen geht es weiter. 

Klar wäre es ganz fabelhaft, würde auf meiner Reise immer die Sonne scheinen und das tut sie fast. Kurz nach fünf halte ich erstmals Ausschau. Aber oh Schreck, es tröpfelt und alles ist nass. Obendrein meine volle Wäscheleine. Da ich keine Verpflichtungen habe und ausschließlich die Dinge tun kann, die mir Spaß machen, bleibe ich einfach bis zum ausgiebigen Frühstück mit guten Kaffee liegen. Solche Banalitäten wie nasse Wäsche erledigen sich zuweilen von selbst. Frühstück mit dem Wirt. Gespräche über gemeinsame Bekannte und Angelegenheiten in der Gastronomie. Ein weites Feld, dass die Sonne scheinen und die Wäsche trocknen lässt.

In meinen Nebennieren darf später schieres Adrenalin hochkochen. Die kurze und sehr steile Abfahrt geht über Stock und Stein hinunter zur Itzquelle. Downhill in bester Qualität! Unten erwartet mich ein echter Kraftort. Falls ich später mal eine Umschulung zum Druiden machen sollte, wäre dies der fließende Ort für meine Praxis. Feen und Gnome würden sich sicher zwischen den mächtigen Buchen wohl fühlen. Und schon, entdecke ich einen Troll im Wurzelwerk, der auch gerne für meine Kamera posiert. Jaja, wer es glaubt wird selig, aber schaut selbst! Zur Itzquelle gehört das Dörfchen Stelzen. Der Dorfname mag davon herstammen, dass viele krankende Menschen einstmals nachdem sie das Wasser der Itzquelle tranken, Heilung fanden, ihre Stelzen an die Bäume hängten und gesunden Fußes den Heimweg antraten. (Man beachte diesen ellenlangen Schachtelsatz!) Geizige Menschen ließen die Quelle einfassen, um vom Wassertrinkenden, Geld verlangen zu können. Da verlor die Quelle ihre Heilkraft. Soweit die Legende. Glaubhafter ist mit der Reformation (wallfahren wurde verpönt) die Wallfahrt nach Stelzen in Vergessenheit geraten. Somit hat ein gewisser Martin Luther Anteil daran, dass Thüringen kein Lourdes hat. Jammerschade, dass die uralte dazugehörige Wallfahrtskapelle Mariahilf verriegelt und verrammelt ist.

Am Fuße der Schaumburg schlägt Ritter Heinrich I. von Schaumburg mit Verbündeten und Hofstaat gerade ein großes Heerlager auf. Es ist wie eine Reise in die alten Zeiten und der letzte Höhepunkt auf Thüringer Boden. Im Übrigen war ich hier am Ostersonntag zum traditionellen Osterspaziergang des MDR. Eine wundervolle Aktion und an demselben Nachmittag hat mir meine Tochter eine Jakobsmuschel ganz freihändig auf die Wade gestochen. Und ich habe Wiederholungsbedarf. Gute Tattos sind gut!

Falls Pilgerreisen charakteristisch für Krankheitssymptome sind, dann möchte ich nie wieder gesund werden. Dagegen würde ich gerne wieder richtig gesund werden um endloser pilgern zu können. Hach! Bei derlei Gedankenwulst bin ich gerne mein eigener Kopfdoktor. Irgendwie gelingt es auch, die vielen Fragezeichen auf hinterlistige Weise zu verschaukeln. Ich rolle angenehm von einem Freistaat in den Anderen. Durch Felder, Wiesen, Seen, Täler und kleine Dörfer schlängelt sich der Muschelweg in den Süden. Durch Seen gerollt? Almerswind, Froschgrund, Parnickelsgraben, Weißenbrunn vorm Wald, Pöppelholz, Gereuth, Oberwohlsbach, Unterwohlsbach und Schloss Rosenau mit dem Englischen Garten möchte ich benennen. Perfekt zum Meditieren. In Rödental kaufe ich in einem Buchladen einen Kugelschreiber und komme mit der Verkäuferin ins Gespräch. Sie will gar nicht glauben, dass ihr Geschäft am Jakobsweg liegt. Erst zeige ich ihr die Muschel auf meiner Wade und dann die nächste an einem Verkehrsschild. Mit einem Lächeln wünscht sie mir einen guten Weg, der mich in den Schweizergrund und hinter der ehemaligen Brauerei Scheidmantel fast senkrecht zur Veste Coburg hinaufbringt. Kaffee und Kuchen gibt es zur Belohnung am Hofgarten in der Bäckerei. Zwischen Coburg und Lichtenfels verdampfen letzte Wolken in der Mittagssonne und es wird heiß. Sehr heiß!

In der sehr schönen Stadtpfarrkirche Mariä Himmelfahrt spende ich eine Kerze für meine Lieben, bevor ich auf dem Wochenmarkt, in der Korbmacherstadt für den Mittagsschmaus sorge. Backfisch und Softeis. Die leibliche Stärkung brauche ich für künftige anspruchsvolle Steigungen. Es geht den Kapellenberg hinauf, den ein schönes aber leider verschlossenes, dem Jakobus geweihtes Kirchlein ziert. Es ist die Abwechslung, die einen Tag unvergesslich werden lässt. Vierzehnheiligen. Es ist das dritte Mal, dass ich diesen Ort besuche und gewissermaßen sehe ich ihn mit vollkommen neuen Augen. Vornehmlich der Gnadenaltar und die ihn umzingelnden weißen Stuckfiguren der 14 Nothelfer ergreifen mich zutiefst. Ich könnte leicht Stunden hier zubringen und dass ich eine Kerze spende ist selbstverständlich. Im Pastorat empfange ich den Stempel ins Pilgerbuch. Als ich von der Erkundungstour zurückkehre, ist mein Fahrrad von Touristen umringt und ich werde bezüglich der Jakobsmuschel und dem Wappen angesprochen. Franzosen. Ich muss ihnen erklären, dass ich kein Pole, sondern Thüringer bin. Stolz zeige ich mein Pilgerbuch mit den französischen Stempeln bis Vézelay. Unglaublich! Eine ältere Dame gibt mir ein Küsschen auf die Wange und ich bekomme mehrfach „Bon Chemin“ und „Bon Courage“ zu hören. Entschuldigt bitte, hab gerade Pipi in den Augen.

Eigentlich wollte ich in der Pilgerherberge der Erzdiözese übernachten, aber es ist ja noch früh am Tage, so dass ich die ursprüngliche Absicht verwerfe. Telefonisch kündige ich mich in der Abtei Maria Frieden in Kirchschletten für die Nacht an. Es wird eine gute Wahl.

Seit 1803 wird oberhalb der Wallfahrtskirche der Nothelfertrunk gebraut und ich decke mich vorsichtshalber hinreichend damit ein.  

Mit dem Staffelberg kommen ein paar bilderbuchmäßige Zutaten ans Tageslicht, die ihresgleichen suchen. Ich bin einfach nur freudetrunken. „Wer hier nicht war, hat nicht gelebt!“, möchte ich ausrufen. In der Staffelbergklause neben der Adelgundiskapelle trinke ich einen Kaffee, der dem, auf dem venezianischen Markusplatz, von der Wichtigkeit sehr nahekommt. Nur so teuer ist er nicht. Der Staffelberg ist so einmalig, dass mir mehrere Attribute für ihn ausdenke. Grandios, fabelhaft, unvergesslich, einhorntauglich, usw.

 „Wer nicht auf der Strecke bleiben will, muss ab und zu vom Weg abweichen!“ denke ich, als ich die Jakobswegstufen sehe die in die Tiefe führen. Mein Navi findet eine aussichtsreiche Alternative in die Marktgemeine Zapfendorf. Hier werde ich von Mutter Mechthild auf das Liebste empfangen.

Laut Wikipedia wurde der Gutshof von Kirchschletten in irgendeiner wichtigen Urkunde schon 1143 nachgewiesen und 1953 von philippinischen Benediktinerinnen bezogen. Ich bin sofort von diesem Ort fasziniert. Ein Ort mit gediegener Betriebsamkeit, wenn ihr versteht was ich meine. Eine ältere philippinische Nonne im grauen Habit fährt im Traktor vorbei und winkt mir freundlich zu. Im Kerngedanken „bete und arbeite“ versorgen sich die Ordensfrauen weitgehend selbst. Sie hüten Rinder, Ziegen, Truthähne, Hühner und Coburger Fuchsschafe und betreiben ökologische Landwirtschaft. Mosten Saft, imkern Honig, ziehen Kerzen und backen leckeres Brot. Und sie betreiben in der einstigen Dorfschule die Pilgerherberge Haus Edeltraud. Hier wohne ich diese Nacht und lerne augenblicklich Marcus kennen. Der junge Pilger aus Magdeburg läuft von der Haustüre bis ans Ende der Welt. (Im September 2017  hat er mir eine Nachricht aus Naverette La Rioja gesendet und wir haben uns virtuell zugeprostet.) Der Tagesablauf der Benediktinerinnen wird von der Fürbitte bestimmt und auch wir feiern die Vesper mit. Anschließend gibt es das knusprige Brot und viele andere Leckereien vom Ökohof beim gemeinsamen Abendmahl. Zwei Pilgerinnen aus Kronach sind auch dabei. Im Garten voller Wiesenblumen gibt es später den Nothelfertrunk und viele Geschichten. Pilgergeschichten. Nachfolgend erzählt Äbtissin Mutter Mechthild Anekdoten aus dem Klosterleben und mein Eindruck ist, dass es viel spannender ist, als ich es mir vorstellte. Viel spannender. Es wird ein guter Abend und nach drei Nothelfertrünken bin ich der Träumer im eigenen Traum. 

Es gibt Situationen, da sehe ich einer Spinne beim verknoten ihres Netzes zu. Da bin ich fasziniert, befangen, kleinmütig und habe keine Ahnung wie es richtig funktioniert. In meinem Leben spielt der Glaube nur eine belanglose Rolle und doch bin ich pünktlich halb sieben zur Heiligen Messe in der schmucken Abteikirche. Gottesdienste besitzen für mich die Aura des Unvertrauten. Marcus ist im gesungenen Chorgebet sehr textsicher und ich bleibe dabei der Laie. Möglicherweise sehe ich einfach nicht tief genug. Vor der Königin des Friedens verbeuge ich mich.

Die Mädels folgen schon den Wegweisern auf dem Jakobsweg, als wir in aller Ruhe am Klosterfrühstück teilnehmen und später noch die Stallungen und die Obst- und Gemüsegärten bestaunen. Bedauerlich, dass die Kerzengießerei noch geschlossen hat, da gäbe es ein schönes Mitbringsel.

Ein Sommer mit Mohnblumen und allem Beiwerk was dazugehört führt meine Winzigkeit an den Main und ins Städtchen Ebing mit viel Fachwerk. Abermals besuche ich eine Kirche, diesmal die sehr hübsche Jakobuskirche. Das hätte ich nie gedacht, dass ich solche Kleinigkeiten Beachtung schenke aber nun ist es so. Dass der Jakobsweg eine lange Geschichte hat, merke ich spätestens im hübschen Baunach. Im Jahr 1440 wurde dort der Jakobspilger Victor Überkum begraben. Das ist schon ganz schön lange her. Wenn ich die vielen Mohnblumen anspreche, dann versteckt sich in Memmelsdorf hinter einem wahrhaftigen Mohnblumenmeer das Jagdschloss der Bamberger Fürstbischöfe. Ich habe das Schloss Seehof trotzdem aufgestöbert und beschnuppere fränkische Toskana mit hunderten Mandarinen- Zitronen- und Orangenbäumen. Dann bin ich in Bamberg und im duftenden Rosengarten. Hier habe ich fantastische Aussichten über eine geschichtenerzählende ehrwürdige Stadt. An und für sich hätte ich doch die Kronacher Mädels einholen müssen, habe ich aber nicht. Einerlei, so erkunde ich die Stadt auf eigene Faust und Bamberg lohnt sich. Erlebnisse in Hülle und Fülle. In der Jakobuskirche drücke ich mir einen schönen Stempel ins Pilgerbuch und rufe Bettys Pilgerherberge in Hausen an. Betty verspricht mir leckere Spaghetti Bolognese und einen großen Salat aus dem Garten. Auf geht’s!

Entlang schöner Wald- und Forstwege entdecke ich die Brauerei Barnickel mit urigem Biergarten. Leckeres Barnikels, das ist absoluter Kult und das schon seit 1366. Franken, du wirst mir immer sympathischer. Pause, Durst, Brotzeit. Im Übrigen ist heute der bisher heißeste Tag des Jahres und den steilen Anstieg zum Kreuzberg schwänze ich und begebe mich arbeitsscheu auf dem Radweg am Main-Donau-Kanal. Die Kulisse ist auch hier großartig und schon der nächste Schauplatz begeistert mich wieder ebenso. Ich stehe vor der Kaiserpfalz in Forchheim. Wieder ein Haus voller Geschichten und einer Zentralheizung aus dem Jahr 1398. Mir gefällt das mittelalterliche Graffiti. Apropos Mittelalter, in Forchheim könnte ein historischer Film gedreht werden und ich mittendrin beim Eis schlecken.

 

Wer einmal den Jakobsweg gebucht hat, der hat viele liebe Begegnungen inklusive. Das Rentnerehepaar Abwandner in Hausen ist genauso vom Jakobswegbazillus befallen wie ich. Sogar den Abflussstopfen im Waschbecken verschönert eine Jakobsmuschel. Hier fühle ich mich sofort wohl und dass Betty das Bolognesekochen beherrscht, daran sollen überhaupt keine Zweifel aufkommen. Es duftet schon mediterran aus der Küche, als ich das ehemalige Kinderzimmer beziehen darf. Nach dem Abendessen handelt die Stimmung und Atmosphäre, beseelt vom Pilgerwein, natürlich vom Jakobsweg. Meine Gastgeber pilgern seit ein paar Jahren etappenweise der Kathedrale in Santiago entgegen. Bis in den Süden Frankreichs haben sie es schon geschafft. Ultrea! Mich hat irgendein Insekt in den Fuß gestochen, unterhalb vom Knöchel ist alles Violett und dick geschwollen. Betty hat Fenestil.     

Die Schwerkraft scheint an diesem Morgen die Flucht ergriffen zu haben.  Nach dem liebenswürdigen Frühstück, pedalieren meine Waden vollkommen schwerelos den nächsten Berg hinauf. Mein Fuß ist zwar noch dick und verfärbt, aber wirklich schmerzlos. In Sigritzau und Pinzberg liegen wieder Kirchen auf dem Besichtigungsplan. Das Kriege richtig Kacke sind, bestätigt sich wieder mal in Effeltrich in der Wehrkirche St. Georg. In den Markgrafenkriegen 1449, 1552 und im 30-jährigen Krieg konnte die Bevölkerung hier Schutz finden, gegen die Bomben im zweiten Weltkrieg hatte sie keine Chance.  Es waren amerikanische Bomben, die Unheil brachten. Es waren amerikanische Spenden die 1952 beim Wiederaufbau halfen. Ein richtiges Kleinod mit einer echten D-Mark im Drachenbauch. Am besten gefällt mir, wie der heilige Georg auf einem Pferd sitzt und den unbezwinglichen Drachen besiegt. Die Lanze schlitzt der Furie den Bauch auf und das Boshafte sickert heraus mit der Münze im Maul. Nun bin ich schon im Nürnberger Stadtwald und irgendwo muss wohl ein Flughafen sein. Die Boeings und Airbusse sind nur wenige Meter über mir. Ein bisschen auf und ab und der bemuschelte Weg führt mich als erstes hinauf zur Nürnberger Burg. Die Bayern haben Feiertage von denen ich keine Ahnung habe, aber heute ist einer. Fronleichnam. An der Pegnitz wird das Afrikanische Festival gefeiert und ich gerade mitten rein. Fetzt! Mit Freunden wird der Abend im Tel Avif Jaffa gefeiert. Es wird ein klasse Abend. 

Am nächsten Tag fahre ich mit dem Zug nach Suhl und der Anstieg bei mörderischer Hitze zum Rennsteig bringt mich wirklich an die Grenzen. Am Lenkrund kann ich abkühlen und zwei Tage später liege ich wieder in der Onkologie.

Das Schönste aber, nun habe ich zwei Jakobswege vor mir. 2019 werde ich entweder von Nevers (Loire) nach Bilbao oder von Nürnberg an den Bodensee. Ich bin so gespannt!          

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