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24. ... Auxerre - Arcy-sur-Cure - Vézelay

Der alte Mönch hebt im Schlussstein noch exorbitanter die Stimme. 

„Selig nenne ich die Generation, die den Zeitpunkt derart göttlicher Gnade erkennt und in dieses wahre Jubeljahr zur Vernichtung der Ungläubigen einstimmt. Wappnet euch furchtlos und ergreift für die christlichen Geschlechter die erfreulichen Schwerter und vertreibt die ...“ Der Ordensbruder überschaut mit pochenden Atem die tausendfache Menge. Veilchenblaue Äderchen bevölkern seine Stirn.  Die letzten Bekräftigungen schreit er dröhnend in den grauen Himmel und wellenhaft schmettern die Worte zurück, zum Volke hinunter: „... im Tod der Gottesleugner sucht der Christ seinen Ruhm, weil unserm Christus geherrlicht wird...“ 

 

Der Freudentaumel ist endlos.

 

Der Mönch wendet sich dem jungen König zu. Ein unmerkbares Lächeln schleicht durch seine bisher so strengen Gesichtszüge. Er legt die päpstliche Bulle in die hehren Hände. Mit seinen Fingern erfasst er das königliche Gesicht und küsst es auf die Stirn. Heute ist er am Ziel seiner Wünsche!

Der Ort, an dem dies vorkam, heißt Vézelay und es wurde das Osterfest gefeiert im Jahre des Herrn 1146.

 

So oder so ähnlich könnte der Prolog zum zweiten Kreuzzug geschehen sein und ich gebe zu, die kleine Dramatik habe ich gerade frei fingiert. Ein solcher Ablauf könnte eine Geschichte, ein kleines Büchlein, ausschmücken. Da kann ich mich sentimental hingeben, da möchte ich erbarmungslos lieb oder hemmungslos böse sein, ich darf Figuren, Handlungen, Moden, Zauderer, Zauberer, wahnwitzige Wahnsinnige, Wirklichkeiten, Affären, Lügen, Heiligenscheine oder sonst noch was erdenken. Zügellose Phantasien! Ich darf es, weil ich zur Zeit dieser Helden noch nicht geboren bin und damit für ihre Geschichten unsichtbar bin. Da schreibe ich die Wahrheit nicht so wie sie ist, ich schreibe wie sie zu sein scheint und ich könnte als stiller Poet durch die Welt wandeln. Was für ein Spaß. 😂 Was meint ihr? Soll ich? Jetzt, fürchte ich – knalle ich vollkommen durch.

 

Es heißt, die Häufigkeit von Gewittern nimmt, vom Polarkreis ausgehend in Richtung Äquator, beständig zu! Und, das heißt? Je weiter ich in den Süden radle, umso mehr komme ich dem Äquator näher. Und, das heißt? Man darf nicht alles glauben, was man denkt. Tatsächlich aber werde ich von Blitz und Donner geweckt. Zum Frühstück gibt es später selbstgemachte Marmelade und einen Schwall erfrischender Luft. Der Moment, in dem die Morgensonne sich endlich durch den Hochnebel drängt verschiebe ich heute in die Mittagszeit und auch nicht wirklich lange.

 

Die Fahrt am Canal du Nivernais ist richtig friedlich. Ich sehe Kormorane, Enten und anderes Federvieh, endlose Mohnblumenfelder und hin und wieder eine Schleusenanlage. Der Beruf des Schleusenwärters setzt anwendbare Erfahrungen in der Blumenzüchtung voraus, so schön sind die Blumengärten an den schmucken Schleusenhäuschen anzuschauen. Rechter Hand sehe ich dann ein Feld, von dem ich bis heute nicht weiß, was da wächst. Vielleicht weiß es jemand von euch?

 

Die nächsten Orte heißen Vaux, Champs-sur-Yonne, Vincelless und Cravant. Schließlich kommt wieder Bewegung ins Höhenprofil und es wird der Bergrücken zum Tal der Cure kirregemacht. Herrlich! Ein wilder Fluss mit verkarsteten Felsen belohnt mich auf den weiteren Kilometern. Auf einem Hügel oberhalb von Asquins befindet sich die Wallfahrtskirche Abbaye de Fontenay und hier vermag ich zum ersten Mal Vezelay sehen. Hier standen wahrscheinlich schon Richard Löwenherz oder der heilige Franziskus und haben übers Tal geschaut. Heute schaue ich. Wahnsinn. Die nächsten Kilometer Jakobsweg sind Weltkulturerbe und äußerst anspruchsvoll. Mit dem Glockenschlag zur zweiten Nachmittagsstunde stehe ich rechtzeitig und trocken vor der weltberühmten Basilika Saint Marie-Madeleine und habe tatsächlich ein kleines Tränchen in den Augen.       

   

Wenn ich die bisherige Pilgerfahrt bedenke, fällt mir ein, dass ich im Prinzip die ganze Zeit auf der Suche nach einem Beweggrund gewesen bin, einem Empfinden, das irgendwie ausgelöst werden müsste, durch irgendetwas. Aber es ist noch nicht angekommen. Jeden langen Tag prasseln immer neue Empfindungen auf mich ein, aber gefühlt habe ich nichts Besonderes. Das ändert sich!

 

Als ich ansetzte, die Stichpunkte aus dem Tagebuch in Sätze zu formen, entschied ich mich dazu auch einige persönliche Gedankenflüge beizugeben, mit etwas Chauvinismus im Blut. Nun bin ich bei der Fahndung nach Wörtern für das, was gerade passiert. Dabei weiß ich doch gar nichts. Alles Blödsinn? Da kann ich nur sagen, gemessen an der Tageszeit, geht es mir noch ziemlich gut.  

 

Als ich am Weltkulturerbe, eine der gewichtigsten Pilgerstätten des Mittelalters ankomme, bin ich anfänglich und im Grunde etwas enttäuscht. Auf den Parkplätzen stehen mehrere Busse und Touristen bevölkern Plätze und Gassen. Es geht steil bergauf und dazu scheint eine kräftige Sonne in drückender Atmosphäre. Dunkle Wolken und fernes Donnergrollen kündigen schon das nächste Gewitter an. Die Herberge Maison Saint Bernard ist im alten Komtureihof untergebracht und der ist heute der Wirtschaftshof der Kathedrale. Eine Nonne im blauweißen Habit der Jerusalemgemeinschaft begrüßt mich im akzentfreien Deutsch. Schnell höre ich so einiges. Sie hatte mit ihrem Mann (Koch) über zwanzig Jahre ein französisches Restaurant in Köln geführt. Dann war Schluss und merkte jetzt, dass es keine sozialen Kontakte mehr gab. Das kenne ich gut! Ins Kloster gehen ist da wohl eine Möglichkeit. Merk es dir Ulli! Sie zeigt mir noch den Aufenthaltsraum und sagt mir, dass ich alles dort benützen könne. Bruder Bernhard wird um 16 Uhr alle Pilger begrüßen. Ich erfahre noch, das ich bisher der einzige bin. In der Küche treffe ich auf Benedit, eine interessante Französin aus Paris. Sie kocht für mich gleich einen Kaffee mit. Ihr Lächeln ist umwerfend. Nun höre ich zum ersten Mal vom örtlichen Zauber. Sie schreibt ein Buch über das Leben Jesu und das in der Einfachheit für Kinder. Und, sie illustriert es eigenhändig. Für ihre Inspiration hat sie sich einen besonderen Ort, einen magischen Ort, gesucht. Von ihrer Arbeit bin ich begeistert. Irre! Als sie erfährt, dass ich von Beruf Koch bin, möchte sie am Abend mit mir kochen. Ich schaue mir schnell die technischen Möglichkeiten und den Inhalt des Kühlschranks an und als ich einen Zauberstab entdecke, einigen wir uns auf Tagliatelle mit Knoblauch-Basilikum-Pesto und grüne Linsen, dazu gebratenen Speck und jede Menge bunter Salat. Ein paar Kleinigkeiten müssen noch auf die Einkaufsliste und mein Englisch wird immer besser. Übrigens! Es regnet Kuhfladen.

 

Der Komtureihof gehörte im Mittelalter dem Johanniterorden und die Schwertritter entstanden nach der Eroberung Jerusalems und wurden auch Ritterlicher Orden Sankt Johannis vom Spital zu Jerusalem genannt. Die Ritter werden auch als Hospitaliter bezeichnet. Heute gibt es auch einen Hospitaliter und das ist der Herbergsvater Bruder Bernhard. Der Namensvetter vom Kreuzzugsausrufer und der Maison ist ein korpulenter Mensch der für eine Woche das Amt ehrenamtlich innehat. Er ist mit unseren Kochplänen einverstanden und er rechnet mit zehn Leuten zum Abendmahl. Alsdann zeigt er mir dann den Schlafsaal im historischen Gemäuer. Es fehlt an nichts und der Code fürs Wireless Local Area Network ist 34stellig.  

 

Nach dem Regen sind die Touristen verschwunden und ich kann mich in das französische Dörfchen verlieben. Verlieben ist da noch ein schwacher Begriff. Es ist so schön! In einer Kerzengießerei kaufe ich ein paar Souvenirs. Dann trinke ich ein Käffchen, besuche das Haus des Schriftstellers Jules Roy und verdiene mir mit kleinen Schritten den Reiz Vezelays. Ein Schmuckkästchen aus Steinen, das sich bis zu seinem Juwel, der Basilika, erstreckt. Noch immer habe ich ein paar Flaschen Veltins aus dem Dreiländereck im Gepäck und gönne ich mir nun eine auf der alten Stadtmauer. Koller! Ich schaue auf das Tal der Cure, die Sonne beschert einen Regenbogen und ich bin nicht mehr alleine. Benedit steht unverhofft hinter mir und fragt mich ob ich mit zur Messe komme. Ich kann gar nicht anders.

 

Auch dann, wenn man direkt vor der Basilika steht ahnt man nicht, was einem hinter dem Eingang erwartet. Das Betreten wird für mich zum Erlebnis. Schlichte Romanik von kosmischer Architektur und das flutende Sonnenlicht lässt Mystik empfinden, lässt im Licht baden. Wir sitzen in der fünften Reihe und das Ehepaar aus der Kerzengießerei setzt sich zu uns. Die Frau streichelt zur Begrüßung meine Wange. Der Gottesdienst wird vierstimmig von den Schwestern und Brüdern des Jerusalem-Ordens gesungen. Das haut mich endgültig um. Unbeschreiblich!

 

Kochen kann so viel Spaß machen! Zum Abendmahl sind geladen, Monique aus der holländischen Käsestadt Alkmaar, die drei „J“ Joseph, Jan und Jeff aus der Nähe von Brügge, Bruder Bernard aus Troyes, Benedit aus Paris und Ulli aus Frauenwald und wir lassen es uns schmecken. Die drei „J“ erzählen eine unglaubliche Geschichte. Joseph hat zwei Schwestern, Jeff und Jan sind die Schwäger. Sie sind seit kurzem Rentner und sie haben sich für diesen Moment, schon vor ein paar Jahren, gelobt mit den Rad nach Santiago zu pilgern. Als es soweit war und sie um 7 Uhr morgens aufbrachen, gingen überall im Ort die Türen auf und über hundert Leute sind die ersten 10 Kilometer mitgeradelt. Dazu schlugen die Kirchenglocken und auf einer Wiese war ein gemeinsames Frühstück vorbereitet, der Pfarrer sprach den Pilgerseegen. Gänsehaut. Wenn ich da an meinen bedripsten Aufbruch denke. Meine Freundin des Abends aber wird Monique. Die hübsche Frau ist Steinbock und empörende zwei Tage älter als ich. Glaubt man nicht, eher zehn Jahre jünger! Wir verbringen die halbe Nacht im Gespräch und sie gibt den Ausschlag. Ich rufe um halb zehn in Stützerbach an und vereinbare ein Vorstellungsgespräch für den kommenden Montag. Verrückt! Das schließlich alles anders kommt ist eine andere Geschichte. Bruder Bernhard lädt Monique und mich zum Pilgersegen nach der Frühmesse ein.

 

Eine aufregende Euphorie steigt in mir hoch und ich kann ewig nicht einschlafen. Joseph schnarcht.

 

Fazit: Welch magischer Ort!

 

Da ich über liebe Menschen schreibe, aber nicht deren Einverständnis dafür besitze, habe ich die Namen leicht abgeändert. 


Die Tage 1 - 23 findet ihr hier: https://www.ulliunterwegs.de/jakobsweg/


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